Bernard Klieger
'Der Weg, den wir gingen'
Verlag Codac Juifs, Bruxelles-Ixelles, B.P. 48,
vierte Deutsche Ausgabe, 1957. Dies Buch erschien zuerst
1946 in französischer Sprache unter dem Titel: 'Le Chemin Que Nous Avon Fait'.
Auszüge:
Seite 12: Über jedes Lager herrschte ein Kommandant, dann kam,
in hierarchischer Reihenfolge: der Lagerführer, der Rapportführer
(Auschwitz hatte drei), die Blockführer, von denen jeder die Aufsicht
über einen Block hatte, und schließlich die Bewachungsmannschaft.
Alle diese Personen waren Angehörige der SS und traten - im Prinzip -
nicht allzu stark in Erscheinung.
Seite 13: Jeder Block hatte einen Blockältesten, der Häftling war. Er hatte ein eigenes, ziemlich
luxuriös eingerichtetes Zimmer, bekam bessere Verpflegung und trug
Kleider von erstklassigen Schneidern angefertigt.
Seite 14: Es gab auch noch eine ganze Anzahl anderer .Prominente' in Auschwitz,
wie beispielsweise die Ärzte, die einem vorbildlichen Krankenhaus
vorstanden. Mancher, der im Lager ein fürstliches Leben führte, konnte sich nicht
rühmen, ein gleiches in der Freiheit geführt zu haben.
Seite 16: Es gibt keine Tragödie, weder in der antiken, noch in der modernen Zeitgeschichte, die auch nur annähernd mit den
Ereignissen in Oswieczim verglichen werden könnte. Dschingis-Khan oder die Hunnen haben nicht entfernt so
viel Blut vergossen, als in Oswieczim floss. Tragödien wie der Ausbruch des Vesuv oder des Aetna oder das Erdbeben
von San Francisco sind beinahe lächerliche Angelegenheiten
im Vergleich zu dem, was in Oswieczim geschah. Über fünf Millionen Menschen
haben hier innerhalb weniger Zeit ihr Leben gelassen.
Seite 18: Endlich stand das Lager und - man muß es zugeben - es war großartig.
Die einzelnen Stuben waren gut eingerichtet, in den Obergeschossen
waren große, luftige Schlafsäle erbaut worden, und vor allem, es
verfügte über vorbildliche Wasch- und Toilettenräume. Man hatte ein
Luxuslager errichtet. Straßen wurden angelegt und gepflastert,
Badebaracken und Desinfektionskammern aufgestellt, und die Häftlinge,
die aus anderen KZs nach Auschwitz gebracht wurden, waren erstaunt
über die modernen und gepflegten Bauten. Scheinbar hatte der erste
Kommandant von Auschwitz [Rudolf Höß] den Ehrgeiz gehabt,
aus seinem Lager ein Modellager zu machen.
Seite 22: Man hub riesige Gruben aus, füllte sie mit Holz und errichtete gigantische Scheiterhaufen,
auf denen man die Leichen verbrannte. Ab und zu passierte es, dass man ganze Transporte aus
Zeitmangel lebend in die Scheiterhaufen jagte. Weit im Umkreise erklangen die Hilfe- und
Angstschreie ..
Seite 29: Unter Hössler
verlor das Lager seinen Charakter als KZ. Für unsere
Begriffe wurde es ein Sanatorium. Selbst das Schlagen hörte auf. Für
die Juden kam eine goldene Zeit und Hössler ging selbst soweit, eines
Tages zu erklären, daß er keinen Unterschied zwischen Reichsdeutschen
und Juden kenne.
Seite 31: Die SS-Angehörigen, die in unserem Kommando arbeiteten, waren bis auf wenige Ausnahmen ganz passable
Menschen. Fast die ganze Arbeit wurde von Juden geleistet.
Seite 33: Untersturmführer Dr. Kunike .. führte die biologische Abteilung, ...dem ich
uneingeschränkt bescheinigen kann, daß er wirklich anständig und
menschlich war. Nicht etwa deswegen, weil er heimlich sein Essen
mit verschiedenen Häftlingen teilte, nein, wegen seines ganzen Benehmens
uns gegenüber. Wenn er mit uns sprach, fühlten wir, daß er uns als
gleichberechtigt ansah. Er diskutierte mit uns über historische und
philosophische Themen in einer Form, die uns vergessen ließ, daß wir Häftlinge' waren und er unser .Herr'. Wir waren seinesgleichen und benahmen uns so, als ob wir im Empfangssalon seiner Villa versammelt
wären. Das KZ war in solchen Momenten in weite, nebelhafte Entfernung
gerückt.
Seite 37 Aber auch sonst wurde .organisiert'. Häftlinge,
die in der SS-Schlächterei arbeiteten, brachten Würste und andere
Fleischwaren mit, deren Verkauf natürlich nur gegen Zigaretten
erfolgte. Oder die Blockschreiber gaben beim Empfang der täglichen
Brotration die Anzahl der Belegschaft höher an, als sie in
Wirklichkeit war. Unser Blockschreiber meldete fast hundert mehr.
Seite 38: Ein Kommando, das Hygiene-lnstitut Raisko, hatte den Häftlingen, die
bei ihm arbeiteten, zu Weihnachten 90 Kilo Makkaroni
geschenkt.
Seite 39: Auch auffallend viel Kognak wurde Weihnachten bei ihm getrunken, und
Kognak war nicht billig. 700 bis 800 Zigaretten kostete eine
Flasche. Woher hatte Kurt Weber, der Blockälteste von Block 13, wohl soviel
Zigaretten? Kurt Weber war ein niederträchtiger Kerl. Weber behauptete
immer, er sei kommunistischer Landtagsabgeordneter für Thüringen
gewesen, doch war er mit einem grünen Winkel ( = Zeichen für
Kriminelle) ins Lager gekommen.
Seite 40: Für mich war Hössler ein Problem. Undenkbar, daß man
es hier mit jemanden zu tun hatte, der der altgewohnten SS-Tradition
nicht gefolgt wäre und - trotz seines Berufes - Mensch blieb.
Ein alter SS-Mann, der sich so väterlich gegen uns benahm - aus reiner
Menschlichkeit?
Seite 41: Er gestattete den Juden sogar den Besuch des Kinos, das
ihnen früher streng verboten war... Jawohl - Auschwitz verfügte über ein Kino und auch noch über ein
Bordell.
Seite 42: Im Lager war auch eine Musikkapelle, sogar eine ausgezeichnete,
zusammengesetzt aus polnischen Häftlingen.
Seite 44: Sonntagnachmittag spielte die Kapelle auf dem Platz vor der Küche
für die Häftlinge leichte Musik. .. Hössler ging noch
einen Schritt weiter in dem Bestreben, uns das Leben so angenehm wie
möglich zu machen. Er gestattete die Formierung eines Kabaretts und
bald hatten wir täglich Vergnügungsveranstaltungen. Einen Abend
Kinovorführung, einen Abend wirklich ausgezeichnete Künstlerkonzerte
und wieder einen Abend Kabarett.
Seite 45: Es ließ sich nun wirklich gut leben in Auschwitz. Wir machten uns die
Arbeit leicht und die Capos blickten weg, wenn wir faulenzten, zu essen
hatten die meisten auch genügend, die einen durch 'Organisation', die
anderen bekamen genug Suppe geschenkt von denen, die an der
Häftlingssuppe kein Interesse mehr hatten. Hunger herrschte also nicht
mehr.
Seite 50: Einige Tage vor dem 19. September [1944] war Auschwitz von amerikanischen
Flugzeugen bombardiert worden. In einem Gebäude, das als SS-Unterkunft diente, arbeitete das Kommando ,Bekleidungswerkstatt'. Einige hundert
Schuster und Schneider. Dieses Gebäude wurde von mehreren Bomben
getroffen und bei den Häftlingen gab es 60 Tote. Die Verwundeten wurden nach dem Krankenbau
verbracht, wo Hössler sie besuchte, Schokolade und Zigaretten an sie austeilen liess
und es den Pflegern zur Pflicht machte, sich ganz besonders um diese Verwundeten - unschuldige
Opfer des Terrorangriffs nannte er sie - zu kümmern.
Seite 54: Er [Lagerführer Hössler] bat uns, im Lager
bekanntzugeben, daß von
heute ab jeder Häftling das Recht habe, ihn einfach auf der
Lagerstraße anzusprechen, wenn er Grund zu irgendeiner Beschwerde
habe.
Seite 55: Hössler unterhielt sich dann noch mit jedem Einzelnen von uns aufs freundschaftlichste,
frug jeden nach seinem Beruf und seiner jetzigen Beschäftigung ..
Seite 57: Über die politische und militärische Lage waren wir soweit
informiert, wie die deutschen Zeitungen, von denen wir einige abonnieren
und lesen durften, es beliebten, sie wiederzugeben.
Seite 73: Schlojme und Jankel waren vorher in der Desinfektion tätig, einem
Kommando, bei dem fast nichts zu tun war. Die Kleidungs- und
Wäschestücke, die von den Transporten stammten, mußten sie in die
Desinfektionsapparate stecken und warten, bis sie desinfiziert waren.
Außerdem war dieses Kommando eine ausgezeichnete ,0rganisationsquelle'. Sie suchten sich die besten Stücke heraus und
verschacherten sie. Beide zeigten mir einmal ihre Schränke, und ich
war sehr erstaunt über die Dinge, die darin lagen. Speck, Schinken,
die feinsten Salamiwürste, bester englischer Kuchen, Schweizer Käse
in Schachteln, Ölsardinen, frische Eier, Bohnenkaffee, echter
schwarzer Tee - kurz Dinge, die man selbst außerhalb des Lagers nur
noch dem Namen nach kannte - die aber noch vorhanden sein mußten, da
sie ja sonst die Beiden nicht hätten haben können.
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