Donnerstag, 10. November 2011

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Aus Arthur Schopenhauers: Die Kunst, Recht zu behalten

 

Kunstgriff 30

Das argumentum ad verecundiam {an die Ehrfurcht gerichtetes Argument}. Statt der Gründe brauche man Autoritäten nach Maßgabe der Kenntnisse des Gegners.

Unusquisque mavult credere quam judicare: sagt Seneca {jeder will lieber glauben als urteilen} [ De vita beata, I, 4]; man hat also leichtes Spiel, wenn man eine Autorität für sich hat, die der Gegner respektiert. Es wird aber für ihn desto mehr gültige Autoritäten geben, je beschränkter seine Kenntnisse und Fähigkeiten sind. Sind etwa diese vom ersten Rang, so wird es höchst wenige und fast gar keine Autoritäten für ihn geben. Allenfalls wird er die der Leute vom Fach in einer ihm wenig oder gar nicht bekannten Wissenschaft, Kunst, oder Handwerk gelten lassen: und auch diese mit Mißtrauen. Hingegen haben die gewöhnlichen Leute tiefen Respekt für die Leute vom Fach jeder Art. Sie wissen nicht, daß wer Profession von der Sache macht, nicht die Sache liebt, sondern seinen Erwerb: – noch daß wer eine Sache lehrt, sie selten gründlich weiß, denn wer sie gründlich studiert, dem bleibt meistens keine Zeit zum Lehren übrig. Allein für das Vulgus gibt es gar viele Autoritäten die Respekt finden: hat man daher keine ganz passende, so nehme man eine scheinbar passende, führe an, was Einer in einem andern Sinn, oder in andern Verhältnissen gesagt hat. Autoritäten, die der Gegner gar nicht versteht, wirken meistens am meisten. Ungelehrte haben einen eignen Respekt vor griechischen und lateinischen Floskeln. Auch kann man die Autoritäten nötigenfalls nicht bloß verdrehen, sondern gradezu verfälschen, oder gar welche anführen, die ganz aus eigner Erfindung sind: meistens hat er das Buch nicht zur Hand und weiß es auch nicht zu handhaben. Das schönste Beispiel hiezu gibt der Französische Curé, der, um nicht, wie die andern Bürger mußten, die Straße vor seinem Hause zu pflastern, einen Biblischen Spruch anführte: paveant illi, ego non pavebo {Mögen jene beben, ich werde nicht beben. Was aber von den lateinunkundigen Zuhörern von frz. paver = pflastern hergeleitet wurde} . Das überzeugte die Gemeinde-Vorsteher. Auch sind allgemeine Vorurteile als Autoritäten zu gebrauchen. Denn die meisten denken mit Aristoteles ὰ μεν πολλοι̃ς δοκει̃ ταυ̃τά γε ει̃ναι φαμέν {was vielen richtig erscheint, das, sagen wir, ist}: ja, es gibt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat, sie zu überreden, daß solche allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun. Sie sind Schafe, die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt: es ist ihnen leichter zu sterben als zu denken. Es ist sehr seltsam, daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urteil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbstkenntnis ihnen abgeht. – Nur die Auserlesenen sagen mit Plato τοι̃σ πολλοι̃ς πολλὰ δοκει̃  {Die Vielen haben viele Meinungen}, d. h. das Vulgus hat viele Flausen im Kopfe, und wollte man sich daran kehren, hätte man viel zu tun.

Die Allgemeinheit einer Meinung ist, im Ernst geredet, kein Beweis, ja nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit. Die, welche es behaupten, müssen annehmen 1. daß die Entfernung in der Zeit jener Allgemeinheit ihre Beweiskraft raubt: sonst müßten sie alle alten Irrtümer zurückrufen, die einmal allgemein für Wahrheiten galten: z. B. das Ptolemäische System, oder in allen protestantischen Länder den Katholizismus herstellen; 2. daß die Entfernung im Raum dasselbe leistet: sonst wird sie die Allgemeinheit der Meinung in den Bekennern des Buddhaismus, des Christentums, und des Islams in Verlegenheit setzen. (Nach Bentham, Tactique des assemblées législatives, Bd. II, S. 76.)

Was man so die allgemeine Meinung nennt, ist, beim Lichte betrachtet, die Meinung Zweier oder Dreier Personen; und davon würden wir uns überzeugen, wenn wir der Entstehungsart so einer allgemeingültigen Meinung zusehn könnten. Wir würden dann finden, daß Zwei oder Drei Leute es sind, die solche zuerst annahmen oder aufstellten und behaupteten, und denen man so gütig war zuzutrauen, daß sie solche recht gründlich geprüft hätten: auf das Vorurteil der hinlänglichen Fähigkeit dieser nahmen zuerst einige Andre die Meinung ebenfalls an; diesen wiederum glaubten Viele andre, deren Trägheit ihnen anriet, lieber gleich zu glauben, als erst mühsam zu prüfen. So wuchs von Tag zu Tag die Zahl solcher trägen und leichtgläubigen Anhänger: denn hatte die Meinung erst eine gute Anzahl Stimmen für sich, so schrieben die Folgenden dies dem zu, daß sie solche nur durch die Triftigkeit ihrer Gründe hätte erlangen können. Die noch Übrigen waren jetzt genötigt gelten zu lassen, was allgemein galt, um nicht für unruhige Köpfe zu gelten, die sich gegen allgemeingültige Meinungen auflehnten, und naseweise Bursche, die klüger sein wollten als alle Welt. Jetzt wurde die Beistimmung zur Pflicht. Nunmehr müssen die Wenigen, welche zu urteilen fähig sind, schweigen: und die da reden dürfen, sind solche, welche völlig unfähig eigne Meinungen und eignes Urteil zu haben, das bloße Echo fremder Meinung sind; jedoch sind sie desto eifrigere und unduldsamere Verteidiger derselben. Denn sie hassen am Andersdenkenden nicht sowohl die andre Meinung, zu der er sich bekennt, als die Vermessenheit, selbst urteilen zu wollen; was sie ja doch selbst nie unternehmen und im Stillen sich dessen bewußt sind. – Kurzum, Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: was bleibt da anderes übrig, als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen? – Da es so zugeht, was gilt noch die Stimme von hundert Millionen Menschen? – So viel wie etwa ein historisches Faktum, das man in hundert Geschichtsschreibern findet, dann aber nachweist, daß sie alle einer den andern ausgeschrieben haben, wodurch zuletzt alles auf die Aussage eines Einzigen zurückläuft. (Nach Bayle, Pensées sur les Comètes, Bd. I, S. 10.)

»Dico ego, tu dicis, sed denique dixit et ille:
Dictaque post toties, nil nisi dicta vides.«

{»Ich sag’ es, du sagst es, doch schließlich sagt es auch jener: Hat man es so oft gesagt, bleibt nur noch Gesagtes zu sehen.«}

Nichtsdestoweniger kann man im Streit mit gewöhnlichen Leuten die allgemeine Meinung als Autorität gebrauchen.

Überhaupt wird man finden, daß wenn zwei gewöhnliche Köpfe mit einander streiten, meistens die gemeinsam von ihnen erwählte Waffe Autoritäten sind: damit schlagen sie aufeinander los. – Hat der bessere Kopf mit einem solchen zu tun, so ist das Rätlichste, daß er sich auch zu dieser Waffe bequeme, sie auslesend nach Maßgabe der Blößen seines Gegners. Denn gegen die Waffe der Gründe ist dieser, ex hypothesi, ein gehörnter Siegfried, eingetaucht in die Flut der Unfähigkeit zu denken und zu urteilen.

Vor Gericht wird eigentlich nur mit Autoritäten gestritten, die Autorität der Gesetze, die fest steht: das Geschäft der Urteilskraft ist das Auffinden des Gesetzes, d. h. der Autorität, die im gegebenen Fall Anwendung findet. Die Dialektik hat aber Spielraum genug, indem, erforderlichen Falls, der Fall und ein Gesetz, die nicht eigentlich zu einander passen, gedreht werden, bis man sie für zu einander passend ansieht: auch umgekehrt.

Letzter Kunstgriff

Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. Das Persönlichwerden besteht darin, daß man von dem Gegenstand des Streites (weil man da verlornes Spiel hat) abgeht auf den Streitenden und seine Person irgend wie angreift: man könnte es nennen argumentum ad personam, zum Unterschied vom argumentum ad hominem: dieses geht vom rein objektiven Gegenstand ab, um sich an das zu halten, was der Gegner darüber gesagt oder zugegeben hat. Beim Persönlichwerden aber verläßt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Tierheit. Diese Regel ist sehr beliebt, weil jeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häufig angewandt. Nun frägt sich, welche Gegenregel hiebei für den andern Teil gilt. Denn will er dieselbe gebrauchen, so wirds eine Prügelei oder ein Duell oder ein Injurienprozeß.

Man würde sich sehr irren, wenn man meint, es sei hinreichend, selbst nicht persönlich zu werden. Denn dadurch, daß man Einem ganz gelassen zeigt, daß er Unrecht hat und also falsch urteilt und denkt, was bei jedem dialektischen Sieg der Fall ist, erbittert man ihn mehr als durch einen groben, beleidigenden Ausdruck. Warum? Weil wie Hobbes de Cive, Kap. 1, sagt: Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de seipso {Alle Herzensfreude und alle Heiterkeit beruhen darauf, daß man Menschen habe, im Vergleich zu denen man hoch von sich denken kann}. – Dem Menschen geht nichts über die Befriedigung seiner Eitelkeit und keine Wunde schmerzt mehr als die, die dieser geschlagen wird. (Daraus stammen Redensarten wie »die Ehre gilt mehr als das Leben« usw.) Diese Befriedigung der Eitelkeit entsteht hauptsächlich aus der Vergleichung Seiner mit Andern, in jeder Beziehung, aber hauptsächlich in Beziehung auf die Geisteskräfte. Diese eben geschieht effective und sehr stark beim Disputieren. Daher die Erbitterung des Besiegten, ohne daß ihm Unrecht widerfahren, und daher sein Greifen zum letzten Mittel, diesem letzten Kunstgriff: dem man nicht entgehen kann durch bloße Höflichkeit seinerseits. Große Kaltblütigkeit kann jedoch auch hier aushelfen, wenn man nämlich, sobald der Gegner persönlich wird, ruhig antwortet, das gehöre nicht zur Sache, und sogleich auf diese zurücklehnt und fortfährt, ihm hier sein Unrecht zu beweisen, ohne seiner Beleidigungen zu achten, also gleichsam wie Themistokles zum Eurybiades sagt: πάταξον μέν, άκουσον δέ {schlage mich, aber höre mich} . Das ist aber nicht jedem gegeben.

Die einzig sichere Gegenregel ist daher die, welche schon Aristoteles im letzten Kapitel der Topica gibt: Nicht mit dem Ersten dem Besten zu disputieren; sondern allein mit solchen, die man kennt, und von denen man weiß, daß sie Verstand genug haben, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit Gründen zu disputieren und nicht mit Machtsprüchen, und um auf Gründe zu hören und darauf einzugehn; und endlich, daß sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können, Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der andern Seite liegt. Daraus folgt, daß unter Hundert kaum Einer ist, der wert ist, daß man mit ihm disputiert. Die Übrigen lasse man reden, was sie wollen, denn desipere est juris gentium {unverständig sein ist Menschenrecht}, und man bedenke, was Voltaire sagt: La paix vaut encore mieux que la vérité {der Friede ist mehr wert als die Wahrheit}; und ein arabischer Spruch ist: »Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht der Friede.«

Das Disputieren ist als Reibung der Köpfe allerdings oft von gegenseitigem Nutzen, zur Berichtigung der eignen Gedanken und auch zur Erzeugung neuer Ansichten. Allein beide Disputanten müssen an Gelehrsamkeit und an Geist ziemlich gleichstehn. Fehlt es Einem an der ersten, so versteht er nicht Alles, ist nicht au niveau. Fehlt es ihm am zweiten, so wird die dadurch herbeigeführte Erbitterung ihn zu Unredlichkeiten und Kniffen [oder] zu Grobheit verleiten.

Zwischen der Disputation in colloquio privato sive familiari und der disputatio sollemnis publica, pro gradu usw. ist kein wesentlicher Unterschied. Bloß etwa, daß bei letzterer gefordert wird, daß der Respondens allemal gegen den Opponens Recht behalten soll und deshalb nötigenfalls der praeses ihm beispringt; – oder auch daß man bei letzterer mehr förmlich argumentiert, seine Argumente gern in die strenge Schlußform kleidet.

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