Montag, 8. September 2014

Von Eva Thöne


Der eigene Blick irrt noch auf der Suche nach dem nächsten Steinpilz zwischen braunen Buchenblättern, da kniet Hartmut Schubert schon wieder am Boden. Eigentlich waren wir zu einer Pilzwanderung verabredet. Jetzt klappt das mit der Wanderung in den Ostharzer Wäldern um Thale nicht so ganz. Richtig voran kommen wir nicht, weil Schubert selten mehr als fünf Schritte am Stück läuft. Dann taucht er plötzlich ab, kämmt mit den Fingern das Gras weg, beugt Oberkörper und Kopf so tief, als wolle er am Waldboden lauschen. Schubert kniet Auge in Auge mit einem rotschuppigen Raukopf. Ein Pilz, dessen Name sich anhört wie ein Monster aus Harry Potter. Ganz so selten ist der Raukopf aber nicht. "Nach starkem Regen kommen Rauköpfe häufig unter den Buchen vor", sagt Schubert, als er den gelben Pilz mit den rötlichen Schuppen aus der Erde zieht.
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Seit seiner Grundschulzeit in Thale sammelt Schubert Pilze, heute ist er 48 und besitzt einen Blick, dem kein Schwammerl entgeht. Wer sich mit Schubert ins Waldgras kniet, entdeckt nicht nur Pfifferlinge und Steinpilze. Der Ingenieur findet Hexen-Röhrlinge, die Menschen früher für verzaubert hielten, weil sich ihr Fleisch beim Aufschneiden durch Oxidation blau färbt. Oder schirmartige Parasole mit samtigem Stiel, deren Lamellen sich unter den Fingern wie zarte Fächer biegen. Pilze, so bunt, dass man keinen von ihnen essen muss, um sich wie auf einer psychedelischen Party zu fühlen. Wobei die Natur Schubert auch ein bisschen entgegenkommt. "Die Vielfalt hier im Harz ist durch die vielen unterschiedlichen Gesteinsformationen besonders groß", sagt Schubert. "Pilze haben ja ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Sommersteinpilze wachsen zum Beispiel gerne auf lehmigen Böden. Gold-Röhrlinge tauchen fast immer in der Nähe von Lärchen auf, weil sie mit ihnen in Symbiose leben."

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Dieser Spätsommer eignet sich im Harz gut zur Pilzsuche. Zwar ist das Sammeln im Nationalpark Harz, der immerhin zehn Prozent des Gesamtfläche des Mittelgebirges ausmacht, verboten. Genug Natur für eine satte Pilzausbeute bleibt trotzdem. Und selbst im östlichen, trockeneren Teil des Mittelgebirges war der Sommer so verregnet, dass die Pilze besonders gut gedeihen konnten. Auch im Regenschatten des Brockens sitzt man also plötzlich mitten in grün-violetten Frauentäublingen, die angebraten fabelhaft schmecken sollen. Jedes Wochenende geht Schubert auf Pilzjagd irgendwo im Harz, fast immer ist er ungestört. Dass Samstag und Sonntag trotzdem schlechte Pilztage seien, habe einen anderen Grund. "Die Rentner aus der Region suchen schon unter der Woche alles weg." Schubert hat das Gefühl, dass sie immer mehr werden. "Überalterung", sagt er. Touristen begegnet er fast nie auf seinen Pilzwanderungen.

Die Zeit der Kaffeefahrten ist vorbei

Josef Oelkers hat als Hotelinhaber eine 80-Stunden-Woche und deshalb nur selten Zeit, um im Wald Pilze zu sammeln. Pfifferlinge stehen heute trotzdem auf der Speisekarte seines Wellness-Resorts in Bad Sachsa. 20 Kilo brachte ihm eine Sammlerin vergangene Woche. "Man muss sich etwas einfallen lassen", sagt Oelkers. "Die Leute erwarten heute mehr vom Harz als früher." Oelkers Küche bietet seit kurzem Slow Food an. Essen also, das die lokale Lebensmittelkultur fördern soll und ökologisch nachhaltig produziert wird. Oelkers hat nicht nur an Harzer Käse sautierte Pfifferlinge im Angebot, sondern auch Ziegenkäse aus Sophienhof und Whiskey aus Zorge. Im Harz hat sich schon vor zehn Jahren eine Slow Food-Regionalgruppe aus Betrieben, Hotels und Restaurants gegründet. Hier in Bad Sachsa am Rand des niedersächsischen Südharzes ist Oelkers bis heute der einzige, der sich angeschlossen hat. Dabei könnte man neue Ideen in Bad Sachsa gut gebrauchen.

"In den siebziger Jahren habe ich als Kochlehrling noch 20, 30 Torten am Tag gebacken für die ganzen Kaffeefahrten", sagt Oelkers. Heute werden die Sommerresidenzen aus dem 19. Jahrhundert, die den Stadtkern Bad Sachsas umgeben, zu Spottpreisen in niedersächsischen Lokalzeitungen angeboten. Romantikpensionen mit gesprungenen Fensterscheiben säumen die Straßen, zugewucherte Wege führen zu verrammelten Restaurants, wo die Gläser am Buffet noch auf Gäste warten.

Nach der Wende fiel für den Kurort die Zonenrandförderung weg, die Harzorte in Sachsen-Anhalt und Thüringen putzten sich mit Subventionen als neue Konkurrenz heraus. Die Gesundheitsreformen der 1990er-Jahre machten vielen Kurkliniken und Pensionen den Garaus. Einige der sieben Kurkliniken wurden zu Seniorenheimen umgebaut, aus denen heute alte Damen freundlich winken. Viele Pensionen konnten nicht genug investieren, um sich in eine zeitgemäße Anlage zu verwandeln. Andere wollten auch nicht, sagen Touristiker. Warum das aufgeben, was so lange lief? 1994 zählte man in der Stadt noch 400 000 Übernachtungen, 2011 waren es nur noch 240 000. Der ganze Harz hat in diesem Zeitraum eine Million Übernachtungen verloren, ein Rückgang von rund zwölf Prozent. "Im Harz ändert sich seit einiger Zeit ganz viel, es gibt immer mehr modernisierte Angebote" , sagt Eva-Christin Ronkainen, Sprecherin des Harzer Tourismusverbands.

Seit drei Jahren kämen wieder mehr Touristen nach Bad Sachsa. Sie blieben durchschnittlich aber immer kürzer. "Jüngere Leute haben heute oft nur noch ein paar Tage Zeit für das Naturerlebnis, aber auch höhere Ansprüche an den Komfort", sagt Ronkainen. Dabei sollten Natur und Konsum eng verknüpft sein: Im vergangenen Jahr eröffnete auf Torfhaus, wo viele Wanderer zum Brocken starten, ein neues Vier-Sterne-Resort. Gleich nebenan: ein Outdoorshop für Marken-Funktionskleidung. Ronkainen geht davon aus, dass bald wieder der Osten nachziehen muss, um nicht touristisch vom Westen abgehängt zu werden. Dass die Ost-West-Dualität überhaupt noch besteht, ist für andere das größere Problem. Eine gemeinsame Vermarktung durch den Harzer Tourismusverband wird immer wieder von einzelnen lokalen Tourismusverbänden erschwert. Gastwirt Oelkers findet, dass sich die Orte zu wenig untereinander abstimmen. "Die Touristen sagen ja auch nicht: ,Wir fahren nach Bad Sachsa.' Die sagen: ,Wir fahren in den Harz'."

In Bad Sachsa ist es vor allem die Lage am Rand des Südharzes, welche die Gäste schätzen: Über dem Ort zieht sich der Ravensberg 600 Meter in die Höhe. Vom Brocken bis nach Kassel, das 100 Kilometer entfernt liegt, reicht der Blick vom Gipfel an klaren Tagen. Selbst, wenn der Brocken mal wieder im Nebel liegt, spannt sich eine Weite auf, an der man sich nicht sattsehen kann: Auf der einen Seite endlose Felder, auf der anderen stapeln sich über einem Meer aus Fichten die Schäfchenwolken in den Horizont. Die Stadt unten mag sich heute in ihrer unentschiedenen Kantigkeit gegen romantische Verklärung sperren. Oben auf dem Ravensberg versteht man aber, warum die Romantiker von Heine bis Chamisso reihenweise dem Harz verfielen.

Weniger romantisch, aber wirtschaftlich wohl recht einträglich ist der Ferienhauspark am Ravensberg. Weiße, gelbe und grüne Klone in Reih und Glied ziehen sich den Hang hinauf. Das niederländische Unternehmen Landal vergrößert hier gerade seine Ferienhaussiedlung. Holländer kamen traditionell immer viele in den Harz, wenn sie sich nach Bergurlaub sehnten, aber dafür nicht so weit fahren wollten. Noch heute sieht man in Bad Sachsa viele gelbe Autokennzeichen und trifft im Souvenirshop Familien aus Amsterdamer Vororten, die von ihrer Wanderung auf den Ravensberg schwärmen. Der niederländische Imbiss, in dem man frisch frittierte Pommes mit Zwiebeln und Erdnusssoße kaufen kann, ist eines der wenigen neuen Geschäfte. "Ich wollte einfach mal ein bisschen neue Kultur herbringen", sagt der Imbissbetreiber.

Auch Trüffel gibt es hier, nur leider darf man sie nicht essen

Bad Sachsa ist umgeben von der Gipskarstlandschaft, die unter Naturschutz steht. Lichte Buchenwälder wechseln sich ab mit satten Wiesen. Die hellen Karstklippen am Ortsausgang würden in ihrer wilden Urtümlichkeit die perfekte Kulisse für einen neuen Jurassic-Park-Film abgeben. Unten in der Stadt, gegenüber des Kurhauses, in dem hinter der verglasten Front im geschlossenen Restaurant Plastikhortensien verblassen, thront Oelkers' "Romantischer Winkel" wie eine Festung mit Gründerzeit-Flair. Oelkers wollte die angrenzende Jugendstilvilla abreißen, bis sich der Denkmalschutz meldete. "Heute bin ich froh darüber", sagt er. Das knarzende Parkett und die üppigen Stuckdecken geben seiner Anlage den Schick, den die neueren weißen Hotelbauten mit den Geranienkästen nicht liefern.

In den 1990er-Jahren wandelte er sein Hotel zum Wellness-Resort um. "Ich hatte im Urlaub in Österreich selbst erlebt, wie gut Wellness funktioniert. Das wollte ich in den Harz bringen." "Die Leute sind heute im Alltag gestresster", sagt Oelkers. "Dabei muss man nur mal eine Stunde durch den Wald laufen, und merkt gleich, wie man wieder entspannt." Es lässt sich schlecht herausfinden, ob seine Gäste näher am Burn-out stehen als die Kaffeefahrer von früher. Fragt man sie, sagen sie zumindest, dass sie hier sind, um mal richtig auszuspannen. Von der Arbeit, von der Familie, vom Ehemann.

Hartmut Schubert geht zur Entspannung kommendes Wochenende wieder auf Pilzjagd, diesmal in den Westharz. Vielleicht findet er wieder Spei-Täublinge. "Die gelten eigentlich als ungenießbar", sagt er, bricht aber ein winziges Stück ab: "Kost mal!" Es schmeckt interessant, weil die Pilze nicht wie Chili die Geschmacksnerven betäuben, sondern eine bittere Schärfe besitzen, die auf der Zunge ein wattiges Gefühl zurücklässt. Doch Schubert findet auch jene Edelpilze, von denen man immer dachte, dass sie nur in südlicheren Ländern wachsen: Trüffeln. Die gibt es hier. Weil viele Sorten in Deutschland aber unter Artenschutz stehen, sucht Schubert heute solche, die nicht essbar sind, um sie für andere Mykologen zu kartieren. Immer wieder lockert er vorsichtig den Boden mit einer kleinen Spitzhacke auf. Ganz sacht, um den Waldboden und das Myzel nicht zu schädigen, den eigentlichen Pilz, der sich wie weißes Haar durch die Erde spinnt, während weiter oben nur die Fruchtkörper geerntet werden.

"Es ist aber auch ein Gefühl"

Schneller sind die Nasen der zur Trüffelsuche ausgebildeten Hunde, die ein Freund Schuberts aus Würzburg mitgebracht hat. "Schweine suchen heute längst keine Trüffeln mehr", sagt der. "Das ist eine Legende für Touristen. Hunde sind besser geeignet, weil sie die Trüffeln nicht sofort selber auffressen." Tatsächlich: Für eine Portion Leberwurst aus der Tube bringen die zwei Mischlinge gelb-grün gemaserte Kratertrüffeln, gläserne Gehirntrüffeln, Hirschtrüffeln. Schubert sucht trotzdem am liebsten selbst. "Da, wo Mulden sind, sich also das Wasser sammelt. Es ist aber auch ein Gefühl."

Ein Gefühl, das klingt gut. Schuberts Pilzbegeisterung käme bei den Harz-Touristen bestimmt gut an. In Oelkers Hotel zum Beispiel gibt es bisher nur Wildkräuterführungen. Und den ersammelten Salat aus Schafgarbe und Sauerampfer hat eine Teilnehmerin als "gewöhnungsbedürftig" bezeichnet. Die Steinpilze - in der Pfanne geschwenkt, verfeinert mit einem Schuss Limettensaft und gehäckseltem Schnittlauch - schmecken aber wirklich gut. Nicht nur, weil man sie mit den eigenen Händen aus der Erde gedreht hat.

Schubert überlegt. "Nee." Lust auf einen neuen Job als Pilzführer habe er nicht. "Das wäre ja dann der Beruf, das andere ist Spaß, der geht mir dann vielleicht kaputt, wenn ich das mische." Manchmal legt er sich bei der Pilzjagd zwischendurch eine halbe Stunde in den Wald. "Der Kopf wird dann ganz frei." Wenn Schubert in den Harzer Himmel schaut, denkt er nicht mal mehr an Pilze.

Informationen

- Anreise: Zum Beispiel mit dem Auto in einer Stunde von Göttingen nach Bad Sachsa; mit der Regionalbahn dauert es vom ICE-Bahnhof Göttingen genauso lange.
- Unterkunft: Spa & Wellness Resort "Romantischer Winkel", Bad Sachsa, Zimmer ab 110 Euro pro Nacht und Person, Tel.: 05523/30 40,
 
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Weitere Auskünfte: zum Slowfood in Deutschland und der Harzer Regionalgruppe unter
; eine Liste von Pilzsachverständigen in Deutschland, die beim Pilzsammeln beraten, gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Mykologie unter
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