Donnerstag, 11. September 2014
Kinderüberlebende des Holocaust beim Symposium "Lost Childhood – Jewish Child Survivors" am 27. August 2014 in Berlin: Max Arpels Lezer, Jona Laks, Aviva Goldschmidt, Daniel Chanoch, Yoella Har-Shefi (v. l. n. r.)
 
Yoella Har-Shefi schreit. Den Mund weit aufgerissen steht die zierliche Frau mit hellgrauem Kurzhaarschnitt auf der Bühne des Centrum Judaicum in Berlin. Nach ein paar Sekunden ist es schlagartig still. "Das war, was wir ständig unterdrücken, um normal zu wirken", durchbricht Har-Shefi mit zittriger, aber durchdringender Stimme die Stille. "Es kostet viel Energie, nur um zu spielen, dass wir normale Menschen sind, die wir gar nicht sind." Das, was die Anwältin, die 1935 in Warschau geboren wurde, als Kind erlebt hat, ist das Grauen. Yoella Har-Shefis Eltern wurden im Nationalsozialismus im deutschen Vernichtungslager Treblinka ermordet. Sie selbst hat den Holocaust überlebt. Ihre Kindheit jedoch wurde zerstört. "Im Alter von zwölf waren wir schon alte Leute", sagt sie Ende August beim Symposium "Lost Childhood – Jewish Child Survivors" der Jewish Claims Conference.

Höchstens elf Prozent der jüdischen Kinder in Europa entkamen der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten. 

Die Jüngsten wurden von den Nationalsozialisten als Erste umgebracht – erschlagen, erschossen oder bei lebendigem Leib ins Feuer geworfen. Nur sechs bis elf Prozent aller jüdischen Kinder in Europa haben den Krieg überlebt. Einige von ihnen entgingen knapp der Ermordung in einem der Konzentrationslager, ihnen wurde von den Nazis verboten, zur Schule zu gehen, und sie mussten Zwangsarbeit leisten. Andere wurden von ihren Eltern versteckt oder wuchsen getrennt von ihnen in anderen Familien auf – immer mit der Angst vor Entdeckung und Tod. Ihre leiblichen Eltern haben die meisten nie wiedergesehen.

In den Jahrzehnten nach der Schoa hat man die Child Survivors als die vom Schicksal Begünstigten betrachtet, weil man glaubte, dass das kindliche Gedächtnis die Bilder der Schoa verdrängen würde. Auch die Child Survivors selbst haben lange Zeit über ihre Verfolgung geschwiegen, teils weil sie vom Aufbau eines neuen Lebens vollständig absorbiert waren, teils weil sie das Erlebte zu verdrängen suchten, teils auch, weil ihnen ihre Umgebung das erlittene Leid absprach.

Wird die Bundesrepublik ihrer Verantwortung gegenüber dieser Opfergruppe gerecht?
. Unmittelbar nach Kriegsende galt in der Regel als Child Survivor, wer 1945 16 Jahre alt oder jünger war. Nach den Statistiken der jüdischen Welt-Organisationen gab es damals etwa eine Million "Child survivors" . Diese höchstens elf Prozent der jüdischen Kinder, in Europa, welche der  der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten entkamen, führen uns zu der fast unvorstellbaren Zahl von mindestens neun Millionen von den Nazis in Europa ermordeten "Child  Murderees" [ermordeter Kinder]. Bisher ging man meistens von 'nur' etwa 1,5 Millionen Child Murderees aus .

Eines eint die Child Survivors alle: Die Folgen des Holocaust reichen bis in ihre Gegenwart. Posttraumatische Belastungsstörungen können auch Jahre nach den schockierenden Erlebnissen noch auftreten, weiß der Psychiater und Psychotherapeut Martin Auerbach aus seiner Arbeit als klinischer Direktor der Organisation Amcha, die in Israel seit 1987 Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern psychosoziale Hilfe anbietet. Er ist einer von 380 Mitarbeitern, die Psychotherapien sowie Hausbesuche arrangieren und Sozialklubs betreiben, in denen Betroffene sich austauschen und ihre Freizeit verbringen können – finanziert durch die israelische und ausländische Regierungen, die Jewish Claims Conference, die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die UJA-Federation of New York, und durch Spenden.

Die Nachfrage der Hilfesuchenden wächst in den letzten Jahren: Allein zwischen 2011 und 2013 ist die Zahl der Überlebenden, die sich an Amcha gewendet haben, um 17 Prozent auf 16.366 Klienten gestiegen. "Im Alter kommen neue Verluste hinzu, und manchmal entsteht bei ihnen so wieder das Gefühl, dass sie stark sein müssen", erklärt Psychiater Auerbach. 

"Ich war schon auf dem Weg zur Gaskammer"

"Das wesentliche Trauma der Kinderüberlebenden ist die Trennung von den Eltern. Oder zu sehen, wie die Eltern immer schwächer wurden und man sie demütigte", sagt Auerbach. Oft waren sie extrem früh gezwungen, allein klarzukommen. Von "verlorener Kindheit" sprechen heute viele von ihnen, berichtet Auerbach aus Therapiegesprächen. Sie stellen sich die Frage nach ihrer Identität, fühlen sich einsam und verlassen. Es kann zu Albträumen, Schlafstörungen und Angstzuständen kommen.

Wer der 85-jährigen Jona Laks zuhört, die heute in Israel lebt, versteht, wie tief die Wunden sind. Nachdem ihre Eltern von den Nazis aus Lodz in Polen verschleppt und ermordet worden waren, deportierte man sie und ihre Zwillingsschwester im Alter von 14 Jahren nach Auschwitz. Auf der Rampe wurde sie von ihrer Schwester getrennt und zur Vergasung geschickt. "Ich war schon auf dem Weg zur Gaskammer. Aus dem Schornstein des Krematoriums konnte ich Qualm aufsteigen sehen", sagt sie. "Ich konnte verbranntes Fleisch riechen. Ich denke immer daran." Als der KZ-Arzt Josef Mengele erfährt, dass es sich um Zwillingsschwestern handelt, lässt er Jona im letzten Moment zurückholen. Er missbraucht die beiden Frauen für seine grausamen pseudo-medizinischen Versuche.

"Nachdem ich geheiratet hatte, bemerkte mein Mann, dass ich schreckliche Angst vor Gas und Feuer habe. Er kochte fortan für uns", sagt sie. Vor drei Jahren ist Laks' Mann verstorben. "Seit dem Zeitpunkt bekomme ich kein warmes Essen mehr."

Gefangen in einem Schweigekomplott

Es hat lange gedauert, bis den Kinderüberlebenden überhaupt zugestanden wurde, dass sie ein Trauma erlitten haben. Sie seien noch zu klein gewesen, um sich zu erinnern, hieß es lange Zeit. Doch auch wenn das bewusste Erinnern in Form einer Erzählung erst im zweiten und dritten Lebensjahr möglich ist, bleibt das zuvor Erlebte im Gedächtnis, sagt Auerbach. "Davor sind es nur Fragmente. Aber es gibt körperliche Erinnerungen, die bis heute nachvollziehbar sind. Es ist eine namenlose Angst." Solche Symptome seien auch bei Kinderüberlebenden immer wieder festzustellen und am schwierigsten zu behandeln.

Hinzu kommt, dass viele Betroffene nicht über das Geschehene reden konnten. "Vor allem nach dem Krieg war die erste Aufgabe, das Überleben zu überleben", sagt Auerbach. Es galt, sich eine neue Existenz aufzubauen. Für Yoella Har-Shefi war die Befreiung wie ein zweiter Tod. "Wir wussten doch gar nicht, wie man ein normales Leben lebt", sagt sie. Für sie gab es kein "normales Davor", an dem sie sich orientieren konnten. So nennt es der Frankfurter Psychoanalytiker Kurt Grünberg, der die Traumata der Kinderüberlebenden als identitäts- und strukturbildend einstuft.

Viele Überlebende litten in den Jahren nach dem Krieg zudem unter der Angst, von Außenstehenden nicht verstanden und so noch stärker verwundet zu werden. "Die anderen haben zwar gehört, was die Überlebenden erzählt haben, wollten aber nicht richtig zuhören – auch in Palästina", sagt der Psychologe Auerbach. Dort musste man stark sein, in dem Land kämpften die Juden um ihr Existenzrecht. Viele Überlebende, die nach Palästina kamen, waren zudem mit der Frage konfrontiert, warum die Juden in Europa sich gegen das Nazi-Regime nicht hatten wehren können. Erst durch den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 1961 wurde das "Schweigekomplott" gebrochen, als die Zeugenaussagen Überlebender im Radio übertragen wurden.

Wer bin ich?

Das Schweigen habe dazu geführt, dass viele die Verluste lange Zeit nicht verarbeiten konnten, sagt Auerbach. Der Kinderüberlebende Max Arpels Lezer hat erst im Alter von 40 Jahren eine Therapie gemacht. Er wurde von seinem Vater 1942 in eine fremde Familie gegeben, die ihn vor den Nazis verstecken sollte. Der damals sechsjährige Junge musste ein neues Leben in Friesland beginnen – und auch dort spürte er die Bedrohung, denn Dorfnachbarn wussten, dass er jüdisch ist.

Sechs Jahre später holte ihn sein Vater zurück nach Amsterdam. "1948 begann mein Krieg", sagt er heute. "Ich musste kämpfen, denn ich war ein fast zwölfjähriger Junge vom Land und kam plötzlich in die Stadt", sagt er. Hinzu kam, dass sein Vater ihm eine neue Frau als Mutter vorstellte, seine leibliche Mutter war von den Nationalsozialisten ermordet worden. Zurück in Amsterdam, fiel er in infantiles Verhalten zurück, nässte plötzlich das Bett wieder ein und wurde deswegen geschlagen. Erst nach dem Tod seiner Stiefmutter konnte er sich der Vergangenheit stellen.

Plötzlich ist die Vergangenheit zurück

Die traumatischen Erinnerungen können jederzeit wieder aufbrechen. Luftalarm, wie er in Tel Aviv und andernorts bei Raketenangriffen der islamistischen Hamas aus dem Gazastreifen ertönt, kann zu einer sogenannten Retraumatisierung führen. "Wie ein Überlebender auf die aktuelle Lage reagiert, ist ganz unterschiedlich. Der eine sagt: ,Für mich sind das Kleinigkeiten. Wenn mich Hitler nicht umgebracht hat, wird mich das auch nicht umbringen.' Viele andere haben mehr Angst und bekommen plötzlich Albträume von Bombenangriffen der Alliierten oder anderen Begebenheiten vor 70 oder 80 Jahren", sagt Auerbach.

Auch eine Demonstration, auf der antisemitische Parolen zu hören sind, kann die Traumata zurückbringen. Wichtig für die Betroffenen sei, dass sie dann nicht alleine seien, sagt Auerbach. Deswegen rufen er und seine Kollegen in Krisenzeiten ihre Klienten an, besuchen sie oder bieten Ausflüge in ruhigere Gegenden an.

Die Angst der zweiten Generation

Nicht nur die Überlebenden, auch ihre Kinder können von den Traumata betroffen sein. "Die zweite Generation hat oft das Gefühl der latenten Gefahr. Und wir wissen, dass sie viel sensibler gegenüber neuen Traumata sind", sagt Auerbach. Durch ängstliche Reaktionen der Eltern auf Menschen in Uniform oder Autoritätspersonen beispielsweise bekommen die Kinder mit, dass etwas nicht stimmt. Häufig fühlen sich die Söhne und Töchter der Überlebenden zu sehr behütet. Auch das kann zu Konflikten führen.

Wichtig sei, einen passenden Moment zu finden, um über die Vergangenheit zu sprechen, sagt der Psychiater. Roman Kent, Schatzmeister der Jewish Claims Conference, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer das ist. Seine Familie, das Beisammensein mit den Eltern und Geschwistern, seine Schulzeit und eine Ausbildung habe er durch den Holocaust verloren. Aber wie erklärt man das den Kindern? "Ich wusste nicht, was ich einem kleinen Kind antworten soll, wenn es nach seinen Großeltern fragt. So hatten wir ewig Ausreden parat", sagt er.

Häufig erzählen die Überlebenden ihren Enkelkindern mehr über die Vergangenheit als den eigenen Kindern, sagt Auerbach. Denn der zeitliche Abstand zu den Geschehnissen mache es für die Betroffenen leichter, mit den später Geborenen darüber zu reden. Außerdem würden die Überlebenden heute viel mehr geschätzt und gewürdigt, was ihnen helfe.

"Betreuungskräfte müssen sensibilisiert sein"

Es gibt noch viel zu lernen im Umgang mit Holocaust-Überlebenden. Viele Seniorenheime und andere Einrichtungen der Altenpflege sind noch nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingestellt. "Die Betreuungskräfte müssen sensibilisiert sein", sagt Auerbach. "Man braucht Therapeuten, die keine Angst haben, über den Holocaust zu sprechen. Außerdem muss man den historischen Hintergrund kennen, damit man genau weiß, was es bedeutet, wenn jemand sagt: Ich war in Ungarn." Wenn ein Therapeut die spezifischen Umstände an verschiedenen Orten der Kriegszeit kenne, könne er scheinbar unbegründete Angstzustände eher verstehen und deuten.

Die Kinderüberlebende Yoella Har-Shefi wünscht sich vor allem, dass man ihr mit Verständnis begegnet und anerkennt, dass sie an den Folgen der Verbrechen der Nationalsozialisten leidet. "Wir fordern, dass wir die zweite Hälfte unseres Lebens in Würde leben können, nachdem uns schon die erste genommen wurde", sagt sie. Und eines dürfe man nicht vergessen: Die Überlebenden helfen zu verhindern, dass die Schoah irgendwann nur noch eine Fußnote ist.
ABCD

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