Biographisches Lexikon Zionismus/Judentum

Biographical Encyclopedia of Zionism/Jewry

 

 
Fredy (Alfred) Hirsch

Sporterzieher, * 1916 in Aachen, 1944 im Lager

H.s Eltern, der Metzgermeister und Lebensmittelgroßhändler Heinrich Hirsch und seine Frau Olga geb. Heinemann, stammten beide aus der Kreisstadt Grevenbroich nördlich von Köln. Sein Vater starb, als der Sohn gerade 10 Jahre alt wurde. Der zwei Jahre ältere Bruder Paul, der den Beruf des Rabbiners anstrebte, wanderte 1933 mit seiner Mutter Olga nach Bolivien aus. H. besuchte bis 1931 eine Oberrealschule (Hindenburgschule) in Aachen und wechselte dann an eine andere Ausbildungsstätte in der Kaiserstadt. 

Beide Brüder Hirsch waren im „‚Jüdischen Pfadfinderbund Deutschland" (JPD) früh aktiv. Während der Bruder Paul Hirsch als Theologie-Student in Breslau, eine führende Funktion im „Bund der deutsch-jüdischen Jugend" übernahm, wurde Fredy H. Leiter des JPD in Düsseldorf und arbeitete gleichzeitig in der (übernationalen) jüdischen Sportorganisation „Makkabi Hatzair", eine Tätigkeit, die ihm dann auch während der Emigration noch einen bescheidenen Lebensunterhalt garantierte. H. soll er zeitweilig an der Berliner Hochschule für Leibesübungen studiert haben. Weitere Stationen seines Lebens waren Frankfurt (1934) und anschließend die Tschechoslowakei, wo er ab 1935 eine Zuflucht fand. H. war, als Jude und wegen seiner homosexuellen Neigungen, mochte er auf Grund seiner äußeren Erscheinung noch so sehr dem Ideal des deutschen Mannes entsprechen, im Deutschland des Dritten Reiches doppelt gefährdet.

H. wirkte sowohl in Prag als auch in der weiteren Umgebung der Stadt, in Böhmen, dann in Mähren (zunächst in Ostrau, später in Brünn), ebenfalls in der Slowakei, in den verschiedenen Sektionen der Sportbewegung „Makkabi" und der Jugendvereinigung „Hechaluz" („Pionier"), als „Madrich" (Leiter) in den von diesen Verbindungen veranstalteten Jugendlagern, als Organisator der „Makkabiaden" – vom olympischen Gedanken ausgehender jüdischer Sportfeste. H. organisierte zahlreiche Diskussions-, Gesangs-, Tanz- und Bildungsveranstaltungen, die er mit den Jugendlichen zusammen besuchte und auch Wettkämpfe, Theater- und improvisierte Zirkusvorstellungen. Er vertrat seine zionistischen Überzeugungen. fund manchmal an das Militärische streifende Erziehungs- und Disziplinierungsmethoden. 

Einer der Jungen aus dem Sommerlager des Jahres 1940, in Bezprávi, wo der Verein „Makkabi Hatzair" einen ständigen Stützpunkt unterhielt, sagte später hierüber aus: "Fredy H. leitete so ein militärisches Kollektiv. Wir haben militärische Taktik gelernt. Wie ein Schützengraben auszusehen hat, was ein befestigter Punkt ist, wie ein MG aufgestellt werden muss. Fredy versuchte die ganze Zeit durch seine Persönlichkeit zu beweisen, dass die Juden physisch viel rüstiger sind als die SS. Er bemühte sich darum auch später in Theresienstadt. Zum Beispiel arbeiteten wir einmal auf den Wällen, und von Weitem sahen wir einen SS-Mann näher kommen. Wir machten Fredy auf ihn aufmerksam. Als er ihn sah, sagte er: ‚Das ist doch eine Jammergestalt, seht nur, was für Plattfüße er hat! Wo haben sie denn den gekauft?‘ Das war typisch für ihn. Der einerseits tapfere, andererseits fast rührend törichte H., der immerzu zeigen wollte: Ich habe solche Muskeln, und alle SS-Leute sind Jammergestalten.'

Die Vermutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der für die zionistischen Ideale entflammte Fredy H. im Pathos des Pioniergeistes die reale Gefahr, in der die Kinder schwebten, unterschätzt hat. Noch im Dezember 1940 äußert er brieflich, an einen Freund gerichtet, der heil im Ausland angekommen war: „Wir alle lernen sehr fleißig Hebräisch". Im Nachhinein mag man diesen Satz für naiv halten. Jedenfalls waren Sport und Körperkultur, Frohsinn und Spiel und die Unterweisung in einem Handwerk die bevorzugten Instrumente einer „Umschulung" und „Umbildung" von Grund auf, durch die im jungen Menschen eine Einstellung erzielt werden sollte, die ihn eng zu seiner Gemeinschaft verpflichtet, und vor allem durch das Erlernen des Hebräischen, „dem sich bei uns niemand entziehen darf".

H.'s Gedanken und Grundsätze erschienen im Jüdischen Nachrichtenblatt (Zidovské listy) in Prag, einer seit November 1939 publizierten Wochenzeitung, die als einziges gedrucktes Informationsmedium herauszugeben der Jüdischen Kultusgemeinde noch gestattet wurde. Zu der Zeit waren andere selbstlose Helfer längst dabei, jüdische Jugendliche halb legal, halb illegal aus dem Protektorat hinauszuschleusen, wie zum Beispiel der Brite Nicolas G. Winton, ein Angestellter der Londoner Börse, dem dies mit 664 Kindern gelang, oder Verstecke ausfindig zu machen, um ihnen ein Überleben im Lande selbst zu ermöglichen.  

Als die Deportationen begannen, arbeitete H. schon einige Zeit als Leiter des Referats „Leibesübungen" in der Prager Gemeinde. Dann gründeten die Vertreter der zionistischen Jugendbewegung eine Transporthilfe-Organisation, deren Aufgabe es war, den zur Abfahrt Bestimmten beim Packen und bei ihren letzten Besorgungen zur Hand zu gehen. Anfang Dezember 1941 musste H. selbst mit dem Stab, einer Truppe von Mitgliedern der Prager Gemeinde, nach Theresienstadt. Die Verhältnisse in dem bald überfüllten Ghetto machten binnen kurzem auch die letzten Illusionen darüber zunichte, dass durch Schaffung dieser Einrichtung den Juden die Möglichkeit eröffnet worden sei, den Krieg und die Verfolgung zu überleben, die man auf Seiten der von der SS bestallten Vertreter einer Selbstverwaltung des Lagers anfänglich noch gehegt hatte.

Im Ghetto hat H. wieder seine ganze Kraft der Arbeit für die Jugend gewidmet. Er half bei der Einrichtung und Verwaltung der Heime. Er sorgte, bisweilen allzu energisch, für Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, was in so beengten Umständen freilich überlebenswichtig war. Er organisierte, nachdem man ihm auf dem Wall hinter der Jägerkaserne ein entsprechendes Gelände zugebilligt hatte, Sportveranstaltungen, stellte auch eine Theresienstädter Fußballmeisterschaft auf die Beine, zu der immerhin 22 Mannschaften gegeneinander antraten, und turnte und arrangierte sogar eine Terezíner Makkabiade. Die Jungen unterrichtete er im Boxen und in Jiu-Jitsu, aber er versammelte seine Schützlinge auch zu Erzählungen und Gedichten, Lesungen, Inszenierungen, Schattenspielen und Liederabenden – er selbst spielte Flöte. H. wurde zu einer starken moralischen Autorität. Mancherlei Reibereien, auch mit einzelnen Mitgliedern des Ältestenrates, konnten nicht ausbleiben.

Ab Mitte 1942 trafen mehr und mehr Transporte mit Juden aus Deutschland in Theresienstadt ein, nicht bloß alte und verdiente Leute, die, wie gesagt wurde, im  Bad Theresienstadt einen gemütlichen Lebensabend verbringen sollten, sondern auch Kinder, die gegenüber der bisherigen, relativ homogenen tschechischen Belegschaft des Lagers von vornherein sowohl materiell als auch sozial sehr viel schlechter gestellt waren, zumal sie durch den militärischen, nazistischen Geist geprägt waren, wie eine ihrer Betreuerinnen sich später erinnerte: „Ihre ganze Bildung, ihre Lieder, ihre Erinnerungen, alles war durch den Nazismus beeinflusst. Sie haben eigentlich nichts anderes als Nazideutschland gekannt. Sie sangen ‚Wenn wir marschieren‘ und ‚Wir fahren gegen Engelland…‘". Da erkannte H., der des Tschechischen nicht mächtig war, seine besondere Aufgabe. Binnen kurzem erlangte er den Respekt dieser Kinder: „Für die Kinder war er ein Gott."

H. wurde festgenommen, weil er einmal bewusst ein Kontaktverbot ignoriert hatte, das die SS-Lagerleitung über die Theresienstädter Häftlinge und die Funktionäre ihrer „‚Jugendfürsorge" gegenüber den etwa 1.200 aus dem polnischen Ghetto Bialystok nach Theresienstadt verschleppten und dort, zusammen mit 53 ihnen zugewiesenen Betreuern, in Isolation gehaltenen Kindern verhängt hatte. Zu ihren Betreuern gehörte übrigens auch Franz Kafkas Schwester Ottla. H., der zu den Kindern über den Zaun gesprungen und daraufhin von einem tschechischen Gendarmen der SS überliefert worden war, wurde im Zuge der als Arbeitseinsatztransporte deklarierten Septemberdeportationen des Jahres 1943 nach Birkenau verschickt.

Unter den 5.007 Häftlingen der Septembertransporte von 1943 aus Theresienstadt befanden sich auch 274 Kinder im Alter von bis zu 15 Jahren. Für sie richtete man im sog. Familienlager den Block 31, den Kinderblock, ein. H. wurde dessen „Madrich" (Leiter). Der Kinderblock erregte die besondere Aufmerksamkeit von Dr. Josef Mengele, dem er direkt unterstellt wurde und der sich häufig dort umsah und von den Kindern mit Onkel angeredet werden musste. Auch Adolf Eichmann erschien im Kinderblock und ließ sich persönlich, anlässlich eines Besuches in Auschwitz 1944, von H. über die dortigen Verhältnisse Vortrag halten. 

Von der umfangreichen Korrespondenz H.s ist nur ein Bruchteil erhalten geblieben. Zu seinen Briefpartnern gehörte der jugendliche Heinz Prossnitz, der unzählige Päckchen mit Lebensmitteln von Prag aus an Häftlinge in diversen Konzentrationslagern verschickte, insgesamt nicht weniger als neun Tonnen Gewicht. Zu dieser Zeit hatte H. anscheinend seine zionistischen Überzeugungen revidiert. Ein Gespräch mit ihm ist überliefert: ‚Kannst du dich noch erinnern, wie begeistert wir in Theresienstadt vom Zionismus waren?‘, fragte er mich. ‚Natürlich‘, antwortete ich und wollte weiter sprechen, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. ‚Schau dir die Leute hier an. Was sind sie? Zionisten? Assimilierte? Radikale? Kommunisten? Alles, was für uns wichtig war, gilt nichts. Wir sind Menschen – nackt und jämmerlich. Masaryk war ein großer Mann: Humanismus ist der einzige Weg.‘

Im Frühjahr 1944 kam der Zeitpunkt, wo das Familienlager von den Häftlingen der Septembertransporte geleert werden sollte. Für die Insassen wurde ein Arbeitseinsatztransport nach Heydebreck bei Cosel angekündigt. Die kleinen Kinder in den Baracken konnten von dort aus das Verladen der Menschen, ihrer engsten Angehörigen, auf die Lastwagen beobachten. Vor dem Abtransport nach Heydebreck oder nach der Ankunft im neuen Lager soll H. selbst mit Gift seinem Leben ein Ende gesetzt haben. Unter den Kindern und Jugendlichen, die zusammen mit ihren Müttern Auschwitz überlebten, waren Dina Babbett , Ruth Klüger , Zuzana Ruzickova .

Letzte Änderung / Last update: 17.07.2008 

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Quelle: Internet
 

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