In der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden
herrscht Unruhe. Grund ist eine Aufforderung des Kultusministeriums, eine korrigierte Mitgliederzahl zu nennen. Es gebe Hinweise, sagte ein Sprecher des Ministeriums, "dass Personen mitgezählt wurden, die nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht jüdisch sind". Die jährlichen Zuweisungen des Landes an die israelitischen Glaubensgemeinschaften bemessen sich an der Mitgliederzahl.
Das Land zahlt in diesem Jahr, gemäß dem Staatsvertrag, der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden (IRG) 4,1 Millionen Euro, ein Betrag, der auf der Zahl von
5.090 Mitgliedern in den zehn jüdischen Gemeinden basiert. Da Zweifel an dieser Mitgliederzahl bestehen, war die IRG aufgefordert, sie auf den aktuellen Stand zu bringen. Dies sollte bis Ende Oktober geschehen, die IRG ließ diese Frist aber ungenutzt verstreichen; nun werden bis Jahresende korrekte Zahlen erwartet.
Ob die IRG sich bis dahin vollständig erklären wird, ist allerdings offen. "Wir haben keinen Streit mit dem Kultusministerium diesbezüglich", sagt IRG-Vorsitzender Rami Suliman
. Er fügt aber auch hinzu: Wer Jude sei und wer nicht, "ist unsere Sache". Er werde unter den Mitgliedern keine "Selektion" vornehmen.
Das Ansinnen des Ministeriums, das innerhalb der IRG als "Judenzählung" (in Erinnerung an die Judenzählung im Ersten Weltkrieg) verstanden wird, geht auf die Zeit zurück, in der eine vom Kultusministerium eingesetzte Verwalterkommission die Geschäfte der IRG geführt hat. Anlass waren finanzielle Unregelmäßigkeiten in der jüdischen Gemeinde Baden-Baden, die 2013 aufgedeckt worden waren. Geld, das zur Sanierung des israelitischen Friedhofs von der IRG-Geschäftsstelle in Karlsruhe überwiesen worden war – insgesamt 80.000 Euro –, ist nie verbaut worden. Dafür hatte der Gemeindevorstand zwei Luxusautos angeschafft. Dazu kam ein Erbschaftsstreit um eine kostbare Porzellansammlung, die aktuell das Badische Landesmuseum verwahrt. Die Staatsanwaltschaft Baden-Baden ermittelt immer noch wegen des Verdachts der Untreue "gegen zwei Personen aus dem Führungskreis der IRG Baden", wie ein Justizsprecher bestätigte.
Die überwiegend ehrenamtlich besetzte Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Baden unter ihrem neuen Oberratsvorsitzenden Rami Suliman sah sich durch die Probleme überfordert. Deshalb bat Suliman die Landesregierung um Hilfe, und unter Steuerung des Kultusministeriums wurde eine kommissarische Verwaltung eingesetzt, geleitet von Günter Hertweck
, Generalstaatsanwalt im Ruhestand. Dessen Arbeit ist seit April offiziell beendet.
Hertweck und seine Mitarbeiter hatten hart durchgegriffen. Unter anderem wurde der Meersburger IRG-Geschäftsführer Michael Dörr
entlassen, ebenso dessen Vater Paul Dörr, der von 1993 an ebenfalls 15 Jahre IRG-Geschäftsführer gewesen war und danach einen Beratervertrag besaß. Die Dörrs begriffen die Kommission aus Stuttgart als „Zwangsverwaltung“, die sich verfassungswidrig in tiefste Belange der badischen Juden einmischte – und äußerten das auch.
Die Prüfer um Günter Hertweck stießen bald auch auf die Mitgliederliste und wurden stutzig ob der vielen Namen. Laut der Satzung der IRG bestimmt das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, wer jüdisch ist. Das sind alle Personen, die eine jüdische Mutter haben, oder solche, die zum Judentum konvertiert und den Prüfungen durch eine der Rabbinerkonferenzen standgehalten haben. Die IRG Baden hat die Rechtsform einer öffentlichen Körperschaft. Als solche bezog sie, gemäß dem noch unter Günter Oettinger
ausgehandelten Staatsvertrag mit dem Land Baden-Württemberg aus dem Jahr 2010, zunächst pro Mitglied 750 Euro jährlich. Mittlerweile ist der Betrag gestiegen, weil der Staatsvertrag eine Dynamisierung um jährlich 1,5 Prozent bis ins Jahr 2015 vorsah. Wurden 2010 noch gut 3,8 Millionen Euro nach Karlsruhe überwiesen, werden es im nächsten Jahr 4,1 Millionen sein.
Der IRG-Vorstand bestreitet nicht, dass wohl schon seit den 90er-Jahren gegen die eigene Satzung verstoßen worden sein könnte – damals ausgelöst durch die Vielzahl neuer Gemeindemitglieder aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Mitgliederzahl stieg in dieser Zeit von rund
1.200 Mitgliedern auf mehr als 5.000. Rami Suliman: "Wir hatten nicht die Möglichkeit, alle zu kontrollieren."
Sulimans Stellvertreter Torsten Rottberger, Vorsitzender der israelitischen Gemeinde Emmendingen, sieht ein grundsätzliches Problem: "Es haben nicht mal alle Gemeinden bei uns Rabbiner. Wie soll man da alles prüfen?" Daher seien selbstverständlich alle Gemeindemitglieder betreut worden, auch solche aus Mischehen und deren Kinder. Man wolle daran auch nichts ändern. Der Vorstand hat deshalb vorgeschlagen, künftig alle Kirchensteuerzahler als Gemeindemitglieder zu zählen, die über die Einwohnermeldeämter als "ib" (israelitisch badisch) registriert sind.
Es sei nie "mit Konsequenzen gedroht worden", falls die Mitgliederlisten nicht neu aufgestellt würden, lässt das Kultusministerium wissen. Protokolle aus der Zeit der kommissarischen Verwaltung zeigen aber, dass der Umgangston auch mal ein anderer war. So berichtet der aktuelle IRG-Geschäftsführer Thorsten Orgonas
aus einer Sitzung des IRG-Oberrates im Februar 2014, die Vertreterin des Ministeriums habe erklärt, "für das Land stehe in Frage, ob der Staatsvertrag Bestand haben könne". Und dann: "Des Weiteren dürfe das alte Personal nach dem Ende der kommissarischen Verwaltung nicht zurückgeholt werden, sonst werde das Land Veruntreuung von Landesgeldern anzeigen und die Ehrenamtsträger in die Verantwortung nehmen."
Gemeint waren damit auch Paul und Michael Dörr. Mittlerweile haben sie Unterstützer aus der IRG-Führungsriege gefunden. So haben sich Paul Dörr und die Freiburger Oberrätin Uschi Amitai Anfang Oktober in einem Brief an den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann über die "zwangsausübenden Eingriffe" in die Belange der IRG und die verlangte "Judenzählung" beschwert. Eine Antwort steht aus. Ex-Geschäftsführer Michael Dörr hat vor dem Arbeitsgericht erfolgreich gegen seine Entlassung geklagt.
Die Konflikte könnten sich bald wieder zuspitzen. Auch Rami Suliman will einige Fesseln wieder abwerfen, die der IRG von der kommissarischen Verwaltung angelegt worden waren. Er sagt: "Ich vertraue Michael Dörr." Der Ex-Geschäftsführer solle, vorbehaltlich der Gremienzustimmung innerhalb der IRG Baden, künftig Vorstandsassistent werden.
ABCD
|