Tathergang:
Am 25. April 2007 parken die beiden
Polizisten Michèle Kiesewetter, 22 Jahre alt, und Martin Arnold, damals 24
Jahre alt, ihren Streifenwagen kurz vor 14 Uhr im Schatten einer alten
Pumpstation auf der Heilbronner Theresienwiese. Das Gelände zwischen
Bahngleisen, Neckar und Innenstadt dient Pendlern als Parkplatz, hundert
Meter südlich wird gerade der Rummel für das Maifest aufgebaut. Die
Beamten plaudern und rauchen. Kiesewetter sitzt bei offenem Fenster am
Lenkrad. Ihr Kollege erinnert sich später, dass sie noch dachten, da wolle
jemand eine Auskunft. Zwei Männer von dunklem Typus, einer von ihnen der
Mörder Kiesewetters [Phantombild in Zusammenarbeit mit Arnold erstellt].
Dann enden bei Arnold alle Bilder. Von einem Kopfschuss getroffen, sackt er
auf dem Beifahrersitz zusammen. Sein letzter Gedanke, bevor er Wochen im
Koma liegt, gilt noch seiner Sonnenbrille.
Seine Kollegin Kiesewetter ist sofort tot. Ihr Mörder beugt sich über sie,
um an ihre Waffe zu kommen. Bei Arnold zerrt gleichzeitig jemand mit solcher
Gewalt an der Pistole, dass eine Befestigungsschraube aus dem Lederholster
reißt. Arnold fällt dabei aus dem Auto. Hinterher fehlen neben den
Dienstwaffen drei Magazine mit insgesamt 39 Patronen.
Wenig später bricht über Polizeifunk
Hektik aus. Für 14.14 Uhr ist die erste Meldung über angeschossene
Kollegen dokumentiert. Sofort startet der erste Polizeihubschrauber in
Stuttgart, das Landespolizeipräsidium löst eine Ringfahndung aus. Um 14.22
Uhr stellt eine Notärztin den Tod von Kiesewetter fest, während am
Tatort immer mehr Polizisten eintreffen.
Aufklärungsversuche:
Viereinhalb Jahre bleibt der Polizistenmord
ein Rätsel. Die Soko "Parkplatz" konzentriert sich zunächst auf
eine Frau, die seit gut 15 Jahren immer wieder ihre DNA an Tatorten
hinterließ – bis sich das "Phantom von Heilbronn" als
Mitarbeiterin eines Verpackungsunternehmens herausstellt, das die Wattestäbchen
für die DNA-Analytik lieferte. 2009 – zwei Jahre nach dem Mord –
beginnt das Landeskriminalamt Baden-Württemberg Zeugen und Kollegen erneut
zu vernehmen.
Die Tat selbst hat niemand gesehen. Dafür berichten gleich fünf
Augenzeugen unabhängig voneinander von blutverschmierten Männern, die aus
der Nähe des Tatorts geflüchtet seien. Dazu passen Erkenntnisse der
Tatortanalyse, dass mindestens ein Täter großflächig mit dem Blut von
Kiesewetter in Berührung gekommen sein muss. Eine Autofahrerin beschreibt
einen 30 bis 35 Jahre alten Mann mit rundem Gesicht und dunkelblonden
glatten Haaren, der in einen Wagen sprang. Sie hält ihn für einen Russen.
Sein Arm und die ganze linke Seite seien voll Blut gewesen.
Ein Mann, dessen Identität als zuverlässige Vertrauensperson der Polizei
geheim bleiben soll, beobachtet an einer anderen Stelle eine ganz ähnliche
Szene, hörte den Fahrer zudem "dawai, dawai" rufen – russisch für
schnell. Weitere Zeugen beschreiben, wie Verdächtige im Wertwiesenpark vor
einem Polizeihubschrauber flüchten. Ein Radfahrer sieht am Neckarufer eine
Frau und zwei Männer, von denen sich einer die blutigen Hände im Fluss wäscht.
Jahrelang gehen die Ermittler von bis zu sechs Tätern aus.
Die Soko hatte sich auch in das Milieu der
fahrenden Familien vertieft, deren Wohnwagen in der Nähe standen. Eine Zeit
lang haben die Ermittler eine serbische Diebesbande im Visier, auch von
Kriminellen aus Russland, für die ein Polizistenmord statusaufwertend
wirke, handeln die alten Akten. Ein politisch motivierter Anschlag gegen
Staatsorgane, heißt es in einer Operativen Fallanalyse des LKA, ist eher
auszuschließen.
Seit 2005 arbeitete die Thüringerin
Kiesewetter bei der Bereitschaftspolizei von Baden- Württemberg. Ihre Einsätze
dort waren nicht immer ungefährlich. Unter anderem diente sie bei
verdeckten Ermittlungen gegen eine russische Drogenbande als Lockvogel. Dazu
könnte passen, dass sich in Tatortnähe mehrere Personen aufhielten, die
mit der osteuropäischen Mafia zu tun haben. Laut LKA-internen Vermerken
erbrachte ein Abgleich der Daten der Europol-Stelle für Organisierte
Kriminalität aus Osteuropa mit Handydaten aus Heilbronn einige
Treffer.
Überraschende Wende:
Doch dann scheint der komplizierte Fall plötzlich ganz einfach: In Eisenach
tauchen am 4. November 2011 in einem ausgebrannten Wohnmobil die erbeuteten
Dienstwaffen wieder auf. Daneben liegen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die
mit ihrer Freundin Beate Zschäpe 1998 in Jena untergetaucht waren. Als Kern
der sog. Terrortruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) sollen sie 14
Jahre lang unentdeckt von Behörden Morde verübt und Banken ausgeraubt
haben. Im Brandschutt ihres mutmaßlich letzten Verstecks in Zwickau finden
sich außerdem die Tatwaffen von Heilbronn, zudem Bekennervideos. Und eine
Jogginghose mit Blutspritzern der Polizistin.
Seitdem wird Michèle Kiesewetter als zehntes und letztes Opfer des NSU
gehandelt. Ihre Ermordung ist Teil der Anklage gegen Beate Zschäpe und ein
paar mutmaßliche Unterstützer, die sich seit Mai 2013 vor dem
Oberlandesgericht München verantworten müssen. Und doch bleiben bei kaum
einer anderen vorgeblichen NSU-Tat so viele Fragen offen, werden
Ermittlungsergebnisse, Zeugenaussagen und andere Widersprüche so hartnäckig
ignoriert wie in Heilbronn.
Offene Fragen:
Mit dem Motiv fängt es an: Zuerst hatte selbst der damalige BKA-Präsident
Jörg Ziercke noch über erstaunliche Erkenntnisse aus dem Thüringer Umfeld
der Polizistin und sogar von einem Beziehungsdelikt gesprochen. Doch dann
legten sich BKA und Bundesanwälte in wenigen Tagen auf ihre Theorie von den
Zufallsopfern und den Einzeltätern fest. Böhnhardt und Mundlos, so sagen
sie, hätten aus Hass auf den Staat gemordet. Nach neun ähnlich willkürlich
ausgewählten Opfern mit türkischen und griechischen Wurzeln hätten sie
sich 2007 für zwei von bundesweit etwa 250.000 Polizisten entschieden.
Aber warum in Heilbronn? Warum ausgerechnet auf der Theresienwiese, die
zumindest unter einheimischen Polizisten nicht als Pausenplatz bekannt war?
Warum lockten sie nicht irgendeine Streife über den Notruf 110 in
irgendeinen weniger öffentlichen Hinterhalt?
Warum weisen die Tatwaffen zwar unbekannte DNA, aber keine der toten Täter
auf? Wieso ist die Jogginghose mit den Blutspritzern viereinhalb Jahre lang
nicht gewaschen worden? Wie zufällig stecken auch noch zwei Taschentücher
mit DNA-Fragmenten von Mundlos in der Hosentasche. In Zwickau haben
ausgerechnet diese Beweise das Feuer unversehrt überstanden.
Die Augenzeugen von Heilbronn stufen die Ermittler seit der Eisenacher Wende
2011 als unglaubwürdig ein. Nur so passt es auch, dass keines der
mindestens zehn Phantombilder, die nach ihren Angaben gefertigt wurden, Böhnhardt
und Mundlos nur entfernt ähnelt. Die Herkunft von Opfer und Tätern aus Thüringen?
Laut den abschließenden Ermittlungen: Zufall. Die zahlreichen Hinweise auf
Verbindungen des Terrortrios und ihrer Unterstützer nach Süddeutschland:
nicht belastbar. "Seit dem 4. November 2011", so heißt es in
Aktenvermerken zu offenen Spuren immer wieder, "nicht mehr
relevant."
Heute hinterfragt auch kein offizieller Strafermittler mehr, warum einer der
ersten Zeugen am Tatort in Heilbronn der Europachef der radikalen
libanesischen Amal-Bewegung war. Oder was es mit dem amerikanischen
Elitesoldaten auf sich hat, der eine Dreiviertelstunde vor dem Mord auf der
Autobahn 6 bei Heilbronn in einem BMW mit Tarnkennzeichen der US-Streitkräfte
geblitzt wurde. Am Steuer saß Master Sergeant Andrew H., der damals wie
Kiesewetters Einheit in Böblingen stationiert war. H. war auf
islamistischen Terror spezialisiert und wurde inzwischen wieder in die USA
versetzt. BKA-Fragen nach seinem Auftrag an diesem Tag wurden von den
Amerikanern nie beantwortet. Die deutschen Ermittler hakten auch nicht nach.
Wenige Wochen, nachdem die Öffentlichkeit erstmals von dem rechten
Terrorkommando NSU und dessen angebliche Verwicklung in den Fall Heilbronn
gehört hatte, berichtete der 'Stern' 2011 über den Verdacht, deutsche und
US-Geheimdienste hätten die Schießerei möglicherweise beobachtet. Neben
dem amerikanischen Berichterstatter wäre demnach auch mindestens ein
Verfassungsschützer vom Landesamt Baden- Württemberg vor Ort gewesen:
"Mord unter dem Auge des Gesetzes?" Die im Stern-Bericht erwähnten
Behörden – Amerikaner und Verfassungsschutz – bestritten ihre
Anwesenheit umgehend. Entgegen diesen frühen Dementis bestätigte die
heutige LfV-Präsidentin Beate Bube später, dass am 25. April 2007 doch
einer ihrer Kollegen in Heilbronn zu tun hatte. Es gibt auch für die
Anwesenheit von US-Agenten in Heilbronn weitere Indizien: Eine geheime Mail-
und Faxkorrespondenz zwischen BND, Bundesanwaltschaft und Kanzleramt.
In einem Ermittlungsbericht der Bundesanwaltschaft vom 22. Oktober 2012
heißt es: "Ein eindeutiger Nachweis, dass zumindest Uwe Böhnhardt und
Uwe Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren, konnte bislang
nicht erbracht werden." Zu den Mutmaßungen über den Tag in
Heilbronn trägt auch immer noch die Frage bei, welchen Zweck der Einsatz
der Bereitschaftspolizei aus Böblingen tatsächlich hatte. Warum war
Kiesewetter an diesem Tag eingesprungen, obwohl sie eigentlich frei hatte.
Die offizielle Version dazu geht so: Sechs Kollegen ihres Zuges wurden für
normale Polizeistreifen in Heilbronn angefordert. Im Rahmen des Programms
"Sichere City" sollen sie Junkies und Obdachlose kontrollieren.
Nach einer kurzen Einsatzbesprechung steigen Kiesewetter und Arnold gegen
zehn Uhr in den Streifenwagen. Kurz vor elf kontrollieren sie vier Personen
an der Unteren Neckarstraße, wenig später noch einen stadtbekannten
Trinker am alten Friedhof. Gegen 11.30 Uhr sollen die zwei Beamten ihre
erste Pause am späteren Tatort eingelegt haben.
Anders als Arnold kennt Kiesewetter den Platz neben dem Pumpenhaus schon von
zwei angeblich ähnlich banalen Streifendiensten Anfang April 2007. Zweck
und Umstände dieser Einsätze gelten bis heute als Verschlusssache.
Widersprüchliche Aussagen von beteiligten Polizisten und Zeitangaben nach
dem Mord sind Indizien dafür, dass noch eine andere Operation*) lief als
bisher bekannt. Seltsam scheint auch, dass Kiesewetter und ihr Kollege
Schutzwesten trugen, um ein paar Obdachlose zu vertreiben.
Kiesewetters Einsatzleiter an diesem Tag ist Ex-Ku-Klux-Klan-Mitglied Timo
H.. Er selbst ist in Zivil und einem unauffälligen Kleinwagen unterwegs und
informiert Thomas B., den Chef der Einheit 523, zu der Kiesewetter und Arnold
gehören. Auch B. eilt zum Tatort und beteuert später, der Anschlag habe
eigentlich ihm gegolten, weil er eine serbische Bande auffliegen lassen
wollte. Auch etliche andere Kollegen sind auf einmal vor Ort, die offiziell
nichts mit dem Streifendienst zu tun, aber andere Aufgaben in Heilbronn
hatten. Und offenbar lässt sich nachträglich auch nicht klären, warum
gleich mehrere Kollegen ausgerechnet an diesem Tag den Dienst mit
Kiesewetter getauscht haben wollen.
*) Im April 2007, als Kieseswetter und ihr Kollege Arnold mörderisch
angegriffen wurden, vollzog sich im Heilbronner Stadtgarten eine
Sonderaktion der Polizei mit der Bezeichnung “EG Blizzard”, ein massiver
Schlag gegen die Heilbronner Rauschgiftszene. Die Maßnahmen der "EG
Blizzard" zogen sich über Wochen hinweg im Bereich des Heilbronner
Stadtgartens hin. Diese Aktion hatte dazu geführt, dass die Heilbronner
Stadtgarten-Szene von Russen aus Öhringen übernommen wurde, Spätaussiedlern
aus den angrenzenden Landkreisen. Im Rahmen der Aktion wurden sog.
Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) eingesetzt.
Kiesewetter gehörte zur Einheit BFE 523.
Die BFE wurden in dieser Phase ausschließlich zur Bekämpfung der örtlichen
Drogenszene eingesetzt. Während der Operation waren die Beamten, darunter
auch Kiesewetter, fast ausschließlich in Zivil im Einsatz. Beim Übergang
in die offenen Maßnahmen trugen an manchen Tagen 2 bzw. 4 Beamte Uniform.
Die eingesetzten Beamten erhielten für ihre Einsätze klare Anweisungen.
Die Frage ist daher, wurde Kiesewetter während einer Drogen-Fahndung
erschossen?
Nach dem Überfall am 25. April 2007 sollte
die Sonderkommission “Parkplatz” den Heilbronner Polizistenüberfall
aufklären. In den ersten Jahren verweigerte aber diese Sonderkommission
“EG Blizzard” grundlegende Ermittlungstätigkeiten. Kiesewetter war
zuvor verdeckt eingesetzt gewesen und hatte danach Angst, dass sie als
Polizeibeamtin erkannt würde. Sie wurde auch bedroht. Das Handy Kiesewetters
befand sich noch bis mindestens 17:30 Uhr am Tatort Theresienwiese. Die
Handydaten vom Provider Vodafone gingen später verloren bzw. wurden
versehentlich gelöscht.
Die sog. "Pannen” bei den Ermittlungen zum Polizistenmord und
die Verzögerungen der Ermittlungsarbeit hängen also wahrscheinlich mit
Kontakten zwischen den ermittelnden Polizisten und dem organisierten
Verbrechen zusammen. Mitglieder von Kiesewetters BFE-523 Einheit, darunter
sie selbst, ihr Chef Thomas B. sowie Türsteher und Gäste der Disco
“Luna” trainierten im selben Fitnessstudio. Es gibt Hinweise, dass
Kiesewetter den Geschäften einer kriminellen Organisation namens “Pink
Panther” in die Quere kam.
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